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Der Schatz im Silberheim

 Der Schatz im Silberheim

Bernd Mälzer hasste dieses eisige, trübe Januarwetter, wenn sich das schneebedeckte Land unten heller darstellte als der Himmel oben. Für ihn, der zeit seines Lebens als Fotograf das Licht und seine Besonderheiten mehr achtete als alles andere, seine Farbtemperatur, seine Intensität und seine schwer erklärbare Wirkung auf Psyche und Seele, waren die kalten Monate immer schon die härteste Zeit des Jahres gewesen, waren doch dann alle Fotos zwangsläufig immer nur in Schwarzweiß gehalten. In seinen gut fünfzig Berufsjahren, die ihn mit seiner umfassenden Fotoausrüstung durch so viele Länder, Kontinente und Klimazonen geführt hatten, war Licht, wie er das immer nannte, ein „Werkstoff“, den er mit seiner Kamera meisterlich zu bearbeiten wusste. Dass er dazu noch alles, was ihm vor die Linse kam, trefflich zu beschreiben verstand, bescherte ihm sowohl freischaffend als auch in festen Diensten eines Weltkonzerns stets ein ordentliches Einkommen – genügend, um für sich und seine Ehefrau sowie seinen beiden Kindern in einer der besten Wohngegenden der Stadt ein schmuckes Einfamilienhaus mit Doppelgarage nebst prächtigem Garten zu bauen.

Aber der wilde, unberechenbare Fluss des Lebens hatte ihn irgendwann schließlich an die Uferregion gespült, abgelegt an einem schlammigen Rand, auf dem Pannenstreifen der Autobahn, die er als Reporter über viele Jahre hinweg vornehmlich auf der linken Überholspur zu nutzen gewohnt war. Zuerst war der Arbeitgeber weg, in der Folge dann auch die zweite Ehefrau, und zwar mitsamt der Immobilie. Seine Welt schrumpfte letztlich zusammen auf eine Zweizimmerwohnung in einem unbe­deutenden Dorf namens Krötenbrunn irgendwo am Rande der bewohnten Welt. Immerhin war die Gemeinde voll kanalisiert und mit Strom versorgt, jüngst wurden manche Häuser sogar an das neueste 5-G-Internet angeschlossen, wozu auch immer. Es gab eine Kirche und ein schmuckes Rathaus, und einmal in der Woche boten vormittags kleine Markthändler aus dem ländlichen Umfeld ihre Waren feil auf dem zentralen Platz der Gemeinde neben einer riesigen Scheuer, auf deren Dach ein Storchenpaar wohnte. Und es gab ein Seniorenzentrum, eine öffentlich geförderte Verwahr­anstalt für Menschen, die das Leben ebenfalls in den letzten Jahrzehnten an den Rand gespült hatte. Die Betreiber-Gesellschaft, steuerlich als gemeinnützig anerkannt, hatte sich den Namen eines französischen „Heiligen“ ausgeliehen, um mit ihrem gewinnorientierten Treiben nicht aufzufallen beim Fiskus. Die mittlere Etage des dreistöckigen Plattenbaus direkt an der vielbefahrenen Fernstraße war mit Einzelzimmern oder eher -zellen für Pflegefälle ausgestattet. Hier lebten überwie­gend demenzkranke Menschen, aber sie wussten es nicht mehr. Längst hatte die Alzheimer-Krank­heit fast alle Erinnerungen an ihr teilweise fast hundertjährigen Lebens ausgelöscht.  Das Personal kam von einem externen Dienstleister. Er selbst, Mälzer, wohnte mit anderen älteren, aber weitgehend rüstigen Bewohnern im zweiten Stock in sogenanntem „Betreuten Wohnen“, obwohl er keinerlei Betreuung bedurfte. Gleichwohl wurde generell eine extra zu entrichtende „Betreuungs-Pauschale“ pro Monat fällig für einen mobilen Notrufknopf und weil einmal am Tag – zumindest meistens – eine „Vitalitäts­kontrolle“ in Form eines flüchtigen Blicks auf ein Kontrollschild mit Wochentagen an der Tür durchgeführt wurde. Ende der Betreuung. Mälzer war Journalist und daher gewohnt, zu hinterfragen, zu kontrollieren und Undurchsichtiges aufzudecken. Er litt sehr unter dieser kommerziellen Form der Unterbringung unter dem Deckmantel menschlicher Gemein­nützigkeit, wenngleich die kleine Woh­nung an sich eigentlich ganz nett war mit dem kleinen Balkon über der lauten, staubigen Hauptstraße.


Bei der Bewohnerschaft „On Top“ handelte es sich meist um reifere Witwen, die einer biologischen Besonderheit zufolge ihre Ehemänner um Jahre überlebt hatten und nun einsam vor sich hin dämmer­ten und ihrer verbleibenden Lebenszeit beim Verstreichen zusahen. Sofern die ganztags zu konsumierenden TV-Programme dies zuließen und sämtliche Klatschblätter schon mehrfach gelesen waren. Mälzer hatte in seinem Journalistenleben selbst schon für derlei „Yellow-Press“-Zeitschriften gearbeitet und hatte sich dabei gefühlt, als würde er sich und seine Talente für Geld prostituieren. Aber sein beruflicher Weg war nun mal zeitweise auch mit solchen Passagen gepflastert, und letztlich konnte er damit ganz gut leben, moralisch und auch finanziell. Hochwertige Magazine und Bücher  sowie das Internet hielten ihn dabei stets auf aktuellem und adäquatem geistigem Niveau. Doch nun, im sogenannten „Ruhestand“, hinterfragte er in depressiven Phasen doch immer häufiger seinen eigenen Sinn des Lebens. Er fühlte sich ziemlich deplatziert in diesem Haus, dieser Ortschaft und diesem nachbarschaftlichen Umfeld.

Die Leute in diesem Haus schienen sich für absolut gar nichts mehr zu interessieren, womöglich taten sie das bereits vor ihrem Einzug schon nicht. In seiner Besorgnis vor geistiger Verödung gab Mälzer Bildungskurse für Erwachsene in der nahegelegenen Kreisstadt, wo sich in einer ehemaligen Kloster­anlage durchaus niveauvolle Menschen einfanden, allerdings nicht in ausreichender Zahl. Eine Mitbe­wohnerin hier lebte allein direkt gegenüber am Flur, sie besuchte er jeden Morgen mit einer Kanne Kaffee, und neben genüsslicher Mundart-Konversation hielt man sich bildungs­mäßig auf dem Laufen­den mit dem gemeinsamen Lösen von Kreuzworträtseln. Rosi Dupont war, trotz ihres französischen Nachnamens, ein Krötenbrunner Urgestein, hatte acht Enkel/innen, zwei Töchter und jede Menge Freunde und Verwandte. Außerdem war sie ringsum bekannt wie ein bunter Hund ob ihrer früheren Tätigkeit im Service bei der seinerzeit wichtigsten Gastronomie im Ortszentrum. Direkt neben Mälzer lebte aber auch eine verbitterte Witwe, nach dem Tod ihres Gatten hatte sie die kleine Wohnung gekauft und fühlte sich seitdem als die Grande Dame des Hauses, was ihr natürlich niemand so bestätigte. Und dieses Verweigern von Respekt und Achtung machte sie wohl noch zorniger und unzufriedener – und folglich noch einsamer. In den beiden langen Fluren der Anlage wohnte seit gut einem Jahr auch ein freundliches Ehepaar, er ein zeitlebens braver, demütiger, eher schweig­­­samer Beamter, schlank und hochgewachsen und bis ins Alter mit mausgrauem Anzug gekleidet, sie hin­gegen erinnerte mit ihrer eher gedrungenen Figur und deutlichem Übergewicht spontan an eine Abrissbirne. Quasselte viel Unnötiges und gelegentlich auch Giftiges, eine toxische Spinne a là Schwarze Witwe, aber doch das Herz am rechten Fleck. Dann gab es da neuerdings noch eine Apotheker-Witwe, eine hellwache, resolute Dame, leider von ihrer Krankheit MS so schwer gezeich­net, dass sie eine Gehhilfe mit Rädern benötigte, einen sogenannten Rollator. Zu ihrem Glück war sie finanziell bestens aufgestellt und konnte sie sich eine private Helferin leisten, mit der zusammen sie ihre Einkäufe erledigte. Monika Zahn war um die dreißig und von freundlichem Wesen. Das erkannte Bernd Mälzer immer wieder an der Art, wie sie ihm und dem Hund begegnete, den er tagsüber hütete und deshalb als „seinen Hütehund“ bezeichnete. Auch Sophie Holzer, die Apotheker-Witwe, hatte dann und wann Hundebesuch, wenn nämlich ihr Sohn Samuel, der die ererbte Apotheke am Ort ganz in der Nähe führte, seinen Schweizer Appenzeller dabeihatte. Mit ihrer Schwiegertochter, die Samuel wohl von einem Kroatien-Urlaub mitgebracht hatte, wollte die Apothekerin indes nichts zu tun haben.

 

Und auch nicht mehr viel mit dem anderen Sohn, Michael Holzer, der ebenfalls eine Apotheke in der nahegelegenen Kreisstadt geerbt hatte und diese führte. Der Krötenbrunner Apotheker Samuel Holzer wohnte in dem 3-stöckigen Wohn- und Geschäftshaus, das sein Vater einst im Zentrum der Gemeinde erbaut hatte und das im Ort schlicht „das Apothekerhaus“ genannt wurde, ein stattliches, sehr gepflegtes Haus mit der großen Apotheke im Erdgeschoss. Die Immobilie hatte der ehrwürdige Senior-Apotheker seiner Gattin vor Jahren per Testament vererbt, sie genoss die angenehmen Mieterträge aus der mittleren Etage. Wobei sie auch noch ein stattliches Wohn- und Geschäftshaus in der nahen Stadt ihr Eigen nannte. Hauptmieter waren dort der angesehene Goldschmied Eberhard Behr und seine Gattin Hannelore. Sophie war nicht nur ihre Vermieterin, sondern auch eine ihrer besten Kundinnen, die ihre Mieterträge am liebsten gleich vor Ort in kostbarem Schmuck anlegte, quasi reinvestierte. „So bleibt das Geld nämlich im Haus“, pflegte sie wohlwollend zu schmunzeln, wenn sie sich neue kostbare Preziosen in dem mondän eingerichteten Laden aussuchte. So kam es, dass sich Sophie Holzer über Jahrzehnte einen regelrechten Goldschatz zusammenkaufte, den sie in einer üppig mit Elfenbein-Intarsien verzierten Schmuckschatulle hütete. Nun, da es ihr an passenden Gelegen­heiten mangelte, ruhte dieser gewichtige Goldschatz am Boden ihres ansonsten schmuck­losen Kleider­schranks in der kleinen Wohnung eines schmucklosen Seniorenheims in einem schmuck­losen Kaff am Rande der bewohnten Welt. Achtlos, würdelos, bar jeder Wertschätzung. Der Wert dürfte sich in all den Jahren auf weit über hunderttausend Euro zusammengeläppert haben, zumal sie beileibe nicht nur den Mietzins darauf verwendete. Nur Ivonka, die Schwiegertochter von der Adria, war sich des geschätzten Wertes dieser Schatulle stets bewusst und dachte, manchmal über deren vorzeitige Bergung nach, bevor sich die beiden Brüder in absehbarer Zeit darüber hermachen konnten.

Wenn Monika Zahn mit der mobil stark eingeschränkten Sophie Holzer größere Einkäufe tätigte, benutzten die beiden Damen stets einen schwarzen Einkaufs-Trolley, der konstruktiv durchaus auch auf den Transport von gewichtigen Produkten wie etwa Waschmittel, Obst oder mehrere Wein­flaschen ausgelegt war. Die Wohnanlage war natürlich komplett barrierefrei, also rollstuhl­gerecht angelegt bis hinaus zu den Parkplätzen vor dem Haus. Ivonka Holzer, die Gattin des irgendwann erbberechtigten Apothekers Samuel Holzer, wusste das alles und machte sich so ihre Gedanken. Nein, sie grübelte intensiv über den Schatz im Altersheim. Sollte es ihr irgendwann einmal gelingen, auf irgendeine Weise unbemerkt dieser gewichtigen Schatulle habhaft zu werden, so musste ja für diesen Fall auch der unauffällige Abtransport der wertvollen Beute gewährleistet sein. Schließlich hat man in einem Seniorenheim-Aufzug nicht üblicherweise eine sichtlich schwere Mahagoni-Schatulle unter dem Arm, mit der man dann so einfach das Haus verlässt. Dieser unauffällige Einkaufs­transporter konnte womöglich die Lösung sein für das Transportproblem des Goldschatzes.

Auch über die lautlose und geschmeidige Tötung der reichen Schwiegermutter dachte sie bereits intensiv nach. Überdosierte oder gar toxische Arzneien jeder Art schieden von vornherein aus. Sofort würde der ja Verdacht auf sie fallen, hatte sie doch jederzeit Zugriff auf Pharmazeutika und Drogen aller Art, die in falscher Dosierung oder Kombination zügig zum Tode führen konnten. Und den würde jeder Arzt dann sofort als „unnatürliche Todesursache“ erkennen. Überdies durfte man, das wusste sie von TV-Krimis, auf keinen Fall die Provinz-Polizei und ihre ausgeschlafenen und hartnäckigen Ermittler unterschätzen…! Es musste anders gehen, unauffälliger, nicht nachweisbar…!

 

Sie könnte natürlich den gesamten Inhalt der Schatulle gleich vor Ort in eine unauffällige Handtasche oder einen kleinen, modischen Leder-Rucksack umfüllen, aber besser wäre es allemal, diese Schatulle würde gar niemand mehr zu Gesicht bekommen, nie wieder. Und irgendwann konnte man sie dann einem Antiquitätenhandel anbieten und noch zusätzlich etwas Taschengeld einstreichen.

Ivonka hasste zwar die Kälte, schätzte für ihr Vorhaben dafür aber die früh einsetzende Dunkelheit umso mehr, zumal sie ja das Schatzkästlein in ihrem Auto vor dem Haus verstauen musste, um anschließend den leeren Einkaufs-Trolley wieder zurückzubringen in die Wohnung der Toten, um lästigen Fragen nach dessen Verbleib vorzubeugen. Stichwort zähe Dorfbullen, die dafür berüchtigt waren, Mücken zu Elefanten aufzublasen und Lawinen ins Rollen zu bringen. Ja, sie musste wirklich an alles denken, jede unbedachte Lappalie könnte zum Verhängnis werden, auch oder gerade hier, am Rande der Zivilisation und mutmaßlich fernab professioneller kriminalistischer Ermittlungsarbeit.

Genau gegenüber dem Eingang zur Senioren-Verwahrstation gab es eine kleine Kneipe, einen winzigen Bierausschank mit Zigarettenautomat an der Außenwand. Hier hockten im Sommer die üblichen Verdächtigen, die immer vor solchen Kneipen auf Plastikstühlen hockten und in Bierlaune dumme Sprüche klopften, meist bis weit nach Mitternacht. Einmal im Sommer hatte Mälzer nachts um halb zwei von seinem Balkon hinunter gebrüllt wie ein tollwütiger Rottweiler, was die Säufer wohl beeindruckt hatte, denn danach war‘s dann ruhig an der Mauer. Irgendwie muss die Kunde von einem aggressiven Heimbewohner in dem kombinierten Metzger-Bäckerladen ein paar Meter weiter gemunkelt worden sein. Denn schon am Tag darauf wurde Mälzer von der überraschend hübschen Metzgerei-Verkäuferin gefragt, ob er das gewesen sei, der die Säufer zu Tode erschreckt hatte in der Nacht. Für Ivonka bedeutete diese Kneipe im Sommer, dass zu viele Augen beobachten könnten, wie sie hier abends etwas in ihr Auto lud und anschließend mit dem Karren wieder zurück ins Haus ging. Deshalb war das Unternehmen „Schatz im Altersheim“ baldmöglichst durchzuführen, ehe die Nächte kürzer und vor allem wärmer wurden.

Üblicherweise besuchte Sophie Holzer abends gerne ihr Pferd, das in einem nahen Mietstall seinen Lebensabend verbrachte. Das war bekannt im Haus, erzählte sie doch jedermann unermüdlich von ihrem geliebten Tier. Ivonka Holzer überraschte ihre Schwiegermutter nach deren Rückkehr vom Stall mit ihrem abendlichen Besuch und einer Flasche Rotwein als wohlgemeinter Schlummertrunk. Niemand konnte Verdacht schöpfen oder gar dumme Fragen stellen, und die private Betreuerin Monika Zahn empfand den Besuch der Schwiegertochter als Hinweis auf gutes gemeinsames Auskommen der beiden Frauen. So schwatzte man über Belangloses, bis die alte Dame erkennbar müde wurde und darum bat, so langsam ihren Fernseh-Ruhe-Sessel aufsuchen zu dürfen.

 

 Dieses besonders für Senioren entwickelte Möbel ließ sich elektrisch in ein bequemes Ruhemöbel verwandeln und stand ziemlich raumfüllend genau gegenüber dem Fernseher, erlaubte also über­gangsloses Wegdämmern, ohne Überhaupt das Bett aufzusuchen, was bei Sophie Holzer häufiger passieren konnte. Zumal sie es sich für ein besonders schönes Abendprogramm meist unter einer Schlummerdecke und mit einem weichen Nackenkissen gemütlich machte.

Als Monika Zahn gegangen war, öffnete Ivonka die Rotweinflasche, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und empfahl der Schwiegermutter, sich es doch in ihrem Sessel bequem zu machen, denn demnächst beginne ja das Abendprogramm im Fernsehen, dann wäre sie schon bereit, und sie, Ivonka, werde dann auf jeden Fall rechtzeitig wieder gehen. Diesen Vorschlag fand die Schwiegermutter sehr gut und nahm, leicht stöhnend, in ihrem bequemen Sessel Platz, auf dem Decke und Kissen schon bereit gelegt waren. „Ich setze mich noch ganz kurz zu dir“, sagte Ivonka und hob ihr Glas. „Auf dein Wohl liebe Sophie!“ Sie beide hätten ja manchmal ein etwas angespanntes Verhältnis, aber sie müsse ihr glauben, sie wolle in Zukunft deutlich besser mit ihr auszukommen versuchen, heuchelte die Jüngere und bemühte sich um einen Blick wie die Schlange „Ka“ im dem Disney-Klassiker „Dschungelbuch“. Nach dem versöhnlichen Anstoßen erhob sie sich mit dem Ange­bot, Sophie das kleine Kopfkissen bequem in den Nacken zu schieben, wohl wissend, dass Sophie ob ihrer Krankheit dankbar für diese Annehmlichkeit sein würde. Ivonka zitterte leicht und bekam weiche Knie, als sie mit dem überzogenen Kopfkissen hinter ihrer Schwiegermutter stand, denn jetzt war der entscheidende Moment gekommen, jetzt hieß es Nerven bewahren und den hinterhältigen Plan durchzuführen. Im Geiste holte sie sich den Anblick der reich gefüllten Schatzkiste vor Augen, um die sich das ganze Unterfangen schließlich drehte und die sie demnächst würde an sich bringen können. Sophie beschäftigte sich bereits nichtsahnend mit der Fernbedienung, als Ivonka hinter ihr stehend das Kopfkissen fasste und nicht in ihrem Nacken, sondern auf dem Gesicht der reichen Schwiegermutter platzierte. Mit beiden Unterarmen drückte sie von hinten zu, dabei achtete sich geistesgegenwärtig darauf, dass sie nicht etwa im Todeskampf der Alten von dieser gekratzt werden konnte, als Sophie sich in ihrem Sessel leicht aufbäumte und wild mit den Armen zu rudern begann. DNA-Spuren unter den Fingernägeln würde sie schnell auf Lebenszeit hinter Gitter bringen – dabei wollte sie doch viel lieber bald einmal auf die Malediven! Oder eine schmucke Ferienvilla in ihrer Heimat Kroatien erwerben.

Schon nach wenigen Sekunden war der Todeskampf der reichen Apothekerwitwe vorbei und verloren. Sie hat ein gutes Leben gehabt, versuchte Ivonka das alles für sich zu rechtfertigen, als ihr die Knie weich wurden und sie hinter dem Sessel schwer atmend auf den Teppich niedersank. Sophie lag jetzt ganz friedlich und bequem in ihrem Sessel, so, als warte sie auf den Beginn des Spielfilms, auf den sie sich schon am Nachmittag gefreut hatte. Aber sie atmete nicht mehr und würde den Film nicht mehr erleben können. Ivonka Holzer stützte sich auf den Sims und starrte durch das Fenster in die zaghaft herbeischleichende Dämmerung.

 Die Nacht senkte sich über Krötenbrunn, alles war ruhig ringsum, doch Ilonka Holzers Herz pochte laut und anklagend. Was um Gotteswillen hatte sie getan, einen Menschen umgebracht, noch dazu einen aus der Familie, die Mutter ihres Ehemannes. Obwohl nicht sonderlich gläubig, streifte sie doch der Gedanke an Sünde und Fegefeuer mit äußerstem Unbehagen. Aber es war nun mal geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen, der Tod der Schwiegermutter war endgültig, irreversibel.

Aber sie musste jetzt stark bleiben und vor allem kühl und klar im Kopf, denn die Sache war ja noch längst nicht gegessen! Sie zitterte am ganzen Körper, als sie der Toten das kleine Nackenkissen unter den Kopf schob. Voller Erwartung öffnete sie darauf den Kleiderschrank, und da sah sie es tatsächlich am Boden stehen, das Schatzkästchen, diese edle Mahagoni-Schatulle, den Antrieb für ihren Frevel. Sie bückte sich, zog das Kästchen nach vorne ins Licht und öffnete den Deckel. Ihre Nerven waren zum Bersten gespannt, denn sie hatte den verheißungsvollen Inhalt selbst noch nie zu Gesicht bekommen, kannte ihn nur vom Hörensagen. Und fürwahr: in einem dunkelblauen, samtenen Tuch bot sich ihr ein Anblick wie aus alten Märchen. Sie war überwältigt von den schweren, goldenen Ketten, Armreifen und Broschen, größtenteils reich mit verschiedenen Edel­steinen verziert. Rote Rubine, grüne Smaragde und tiefdunkelblaue Saphire erkannte sie da, die meisten davon eingefasst mit farblos glitzernden Brillanten, die selbst bei diesem schwachen Licht der alten Stehlampe ihr Feuer erahnen ließen. Der Anblick raubte ihr den Atem und fast die Sinne. Sie würde bald schon das alles in bare Münze verwandeln. Doch was sollte sie dann mit all dem Geld eigentlich anfangen, ohne den Argwohn ihres Ehepartners zu wecken, den Sohn der soeben Ermordeten? Na, jetzt musste der Schatz aber erst einmal geborgen, in Sicherheit gebracht und an einem geheimen Ort in der eigenen Wohnung versteckt werden. Sie sah sich plötzlich jäh mit den sprichwörtlichen Problemen aller Piraten und Diebe konfrontiert: Wohin mit der Beute? Nun, zunächst einmal würde sie die kleine Kiste in ihrem Kofferraum belassen, vielleicht in eine harmlose Einkaufstüte gehüllt. Den kostbaren Inhalt aber musste sie wohl am besten in einem Rucksack sicher verwahren. In einem der wetter­festen, den sie bei gemeinsamen Wanderungen mit ihrem Mann immer dabei hatte und der schlummernd in einem alten Schrank im Keller auf seine jeweiligen Einsätze wartete. Für die Scha­tulle würde sich schon ein geeignetes Versteck finden lassen, und sei es in der Waschküche irgendwo unter der voluminösen Winterkleidung, die sie hier gelagert hatten.

Auf dem Flur war es unbelebt wie immer, es brannte nur die schwache Notbeleuchtung an der Decke. Die kostbare Schatulle im Trolley, zog sie die Einkaufskarre über den Flur vor zum Aufzug. Niemand außer ihr war im Haus unterwegs, sodass sie unbemerkt ihr Auto erreichte, das sie direkt am Haus geparkt hatte. Der kurze Ton der Schließanlage erschreckte sie, obwohl sie ihn ja tagtäglich hörte. Aber heute war nicht tagtäglich, heute hatte sie etwas Unfassbares begangen, einen eiskalten Mord. So unauffällig und schnell wie möglich verstaute sie die Schatulle im Kofferraum und deckte sie sogleich mit der alten Pferdedecke ab, die sie für Notfälle stets im Auto dabeihatte. Klappe zu, Thema durch, dachte sie und fühlte sich zunächst erleichtert, für einen kurzen Moment zumindest. Auch der Rückweg verlief zügig, ohne  jemandem zu begegnen. Dann das blanke Entsetzen, als sie die Wohnung betrat und ihre Schwiegermutter im Sessel sitzen sah, leblos und mit weit offenen Augen, das kleine Kissen arglos im Nacken und bei laufendem Fernseher. Sie stellte den Trolley an seinen angestammten Platz im Flur, sah sich noch einmal prüfend um nach eventuell verräterischen Spuren, Stehlampe und Fernseher ließ sie natürlich an und trat abermals hinaus auf den schummerigen Flur.

 

Auch diese kurze Aufzugfahrt verlief ohne besondere Vorkommnisse, und gleich darauf saß sie im Auto, um die kurze Heimfahrt anzutreten. Den Schatz ließ sie im Kofferraum, in diesem Dorf musste niemand mit Autoknackern rechnen.

Morgens gegen halb zehn klopfte Gabi Schmidt an die Tür von Sophie Holzer, weil die Kontrollkarte außen am Türrahmen nicht auf dem aktuellen Stand war. „Hallo, Frau Holzer?“, rief sie leutselig gegen die geschlossene Wohnungstür. Nichts, keine Antwort. „Frau Holzer, sind Sie wach?“ Keine Reaktion. Nun musste der Service dieses Betreuten Wohnens aktiviert werden, sie musste den Schlüssel im ersten Stock holen und eine Kollegin dazu, sie durfte eine Wohnung niemals alleine betreten. Wegen der personellen 24/7-Besetzung in der Pflegestation wurden die Ersatz­schlüssel der Betreuten Wohnungen im Obergeschoss hier zentral aufbewahrt. Sandra Habermann, eine junge Auszubildende des Pflegeberufes, fuhr mit ihr im Aufzug hoch, die beiden öffneten mit leichtem Herzklopfen die Tür und wurden sekündlich bleich wie die Flurtapete, was ihr teures und sorgsam aufgetragenes Makeup nicht zu kaschieren vermochte. Wie vom Blitz gerührt verharrten sie im Türrahmen und rangen nach Luft. Ihnen genau gegenüber saß die Apothekerin, ebenfalls schneeweiß im Gesicht, weil leblos. Aber ohne äußere Anzeichen einer Verletzung, sondern in üblicher TV-Zuschauerpose. Eine der Geschockten näherte sich ihr vorsichtig, um sofort wieder rückwärts den Ausgang zu suchen. Keine der beiden hatte je zuvor eine Tote gesehen, keine brachte einen Ton hervor geschweige denn einen Schrei, wie man das von Filmen des Grusel-Altmeisters Alfred Hitchcock kannte. Vielmehr steuerten sie in panischem Laufschritt das Treppenhaus an, erreichten wieselflink das darunterliegende Stockwerk, und erst dort setzte die Funktion ihrer noch jugend­lichen Stimmbänder wieder ein. Sekunden später gab es in der Pflegestation kein Personal mehr, weil das Treppenhaus angefüllt war mit hastenden Pflegekräften, die sich gleich darauf mit aufgerissenen Augen vor der Tür der Apothekerin versammelten. Jemand rief “die Polizei holen, sofort!“, worauf alle sich um einen einigermaßen geordneten Rückzug bemühten.

Die örtliche Polizeistation vertraute auf das Urteil der Pflegekräfte und verzichtete auf die Alarm-Mobilisierung eines Notarzt-Teams. Stattdessen informierte man gleich das für Mordfälle zuständige Kriminaldezernat, deren Leiter, der erfahrene Kriminalhauptkommissar KHK Herbert Enderle, sich den Spitznamen „Terrier“ erworben hatte, weil er sich in jeden Fall erbarmungslos verbeißen konnte. Sie fuhren ohne Blaulicht und Sirene in neutralen PKWs vor, nur ein kleines, magnetisch am Dach fixier­tes Blaulicht sorgte im Wohntrakt des Gebäudes für aufgeregtes Murmeln.

Auch Bernd Mälzer hatte den Tumult mitbekommen in seiner Wohnung im Zweiten, und nicht gerade alarmartig wie früher so oft, aber doch instinktiv prüfte er den Inhalt seiner professionell ausstaffierten Fototasche auf Vollständigkeit, die zwar immer griffbereit direkt unter seinem Schreib­tisch stand, aber in dieser Lebensphase und an diesem Ort ein ebenso beschauliches Dasein fristete wie er selbst. Aus dem einst rasenden Reporter war längst ein dösender Reporter geworden, weil es nun mal nichts zu berichten gab vom Rand der Welt. Manchmal fühlte er sich wie eine gehörlose Ohrenqualle im Stillen Ozean.

 

Nun aber drängte es ihn aber doch hinunter in den ersten Stock, zumal er von seinem Balkon aus natürlich die Kripo-Fahrzeuge mit den Blaulichtern erkannte. Darunter war nämlich auch ein kleiner Mannschaftsbus, der nur für ein Team der Spurensicherung vonnöten war. Und das wiederum deutete auf einen ernsthaften und akuten Kripo-Einsatz hin. Aber die Mordkommission, hier, im Haus – nein, das konnte er sich nicht vorstellen; dass ihm, dem erfahrenen Pressemann, ein Gewaltverbrechen quasi direkt an die Wohnungstür geliefert wurde. Während er mit anderen an der Tür der Apotheker­innen-Wohnung stand, ging er im Kopf bereits die Agenturen und Redaktionen durch, die er sofort informieren musste. Zu fotografieren gab es ja nicht viel, aber zu recherchieren dafür umso mehr. Wer hatte dem Opfer nach dem Leben getrachtet und warum. Eifersucht schied definitiv aus, in diesem Alter ging man nicht mehr fremd. Ausländische Agenten konnte er sich auch nicht vorstellen. Für Drogengeschäfte war sie wohl zu alt, für Nazi-Racheakte deutlich zu jung. Bliebe noch Raub, ein Raubüberfall vielleicht. Nein, eine stille ältere Dame, weder adlig noch schwerreich, auch nicht prominent oder politisch umtriebig – eine große Story würde das nicht werden. Was blieb, war Mälzers angeborene Neugier, und dafür brauchte er diesmal keine Kamera.

KHK Enderle war ein stämmiger Kerl, Typ schwäbischer Haudegen, in einem gefütterten Trenchcoat, der aussah, als hätte er die letzten Monate darin geschlafen. Auch ohne den markanten Hut erinnerte er Mälzer gleich an den schrulligen, gleichwohl genialen Kommissar Bienzle aus der Krimi­serie „Tatort“, verkörpert von dem verstorbenen Stuttgarter Schauspieler Dietz-Werner Steck, den Mälzer einmal in seinem privaten Domizil interviewt hatte im Zuge seiner aktiven Reporter-Zeit. Noch bevor Enderle an den eigentlichen Tatort kam, war er schon bei der Arbeit und leuchtete draußen im Flur das Schloss der Wohnungstür nach Einbruchspuren ab. Die kleine Wohnung war jetzt voller Menschen, 3 Männer in dünnen weißen Overalls und blauen Plastik-Überziehern an den Füßen, am Tisch saß ein gebildet wirkender Herr Doktor und füllte nach flüchtiger Leichenschau diverse Formulare aus. Der Anführer der vermummten SpuSi-Gruppe – heute heißen diese Spezialisten nicht mehr „Spurensicherung“, sondern „Kriminaltechnischer Dienst“, kurz KTU – brüllte entnervt: „Niemand betritt den Raum, bis wir hier fertig sind!“ KHK Enderle trug ein rustikales Flanellhemd, in dessen Brusttasche eine Packung Zigaretten steckte. Keine der üblichen Hartschachteln, sondern Filterlose. Als langjähriger Raucher wusste Bernd Mälzer deshalb, dass der Hauptkommissar demnächst nach einem Balkon fragen würde, wo er sich mal eben kurz eine anstecken konnte. Unvermittelt rief Mälzer in den Raum: „Falls der ‚Leitende‘ mal kurz eine rauchen möchte zwischendurch, bekommt er bei mir nebenan sogar auch einen Kaffee dazu!“ Verdutzte Blicke, dann verhaltenes Lachen und wissende Blicke zu KHK Enderle. Der strahlte in Richtung Tür, weil er eine solche Einladung in einem Altersheim wohl nicht erwartet hätte. „Bin gleich wieder da“, verkündete er seinen Leuten vorfreudig und trat aus dem Raum. Raucher verstehen sich, als Reporter hätte Mälzer jetzt mehr erfahren können als bei der Kripo-Pressestelle. Der bekennende Genuss­raucher Mälzer drehte naturreinen Tabak traditionell von Hand, er hätte dem Kripomann aber auch eine Reval anbieten können, die er für längere Autofahrten zu schätzen wusste und nur deshalb vorrätig hatte. „Ist ein Löslicher auch okay – geht schneller!“ „ Ja klar, nur keine Umstände!“

 

Dem Herrn Hauptkommissar gefiel Mälzers kleine Wohnung mit dem prallen Bücherregal, dem er sofort ansah, dass der Inhalt auch wirklich genutzt wurde. „Aha“, bemerkte er lapidar, „Sie lesen offenbar keine Frauenzeitschriften.“ „Nicht wirklich!“, entgegnete Mälzer, „für die war ich lange genug als Reporter unterwegs.“ Das war typisch für Mälzer, gleich mit einem potenziellen Informanten im Vier-Augen-Gespräch. Doch auch Enderle nutzte seine Chance, bei diesem freundschaftlichen Plausch vielleicht an zusätzliche Informationen zu kommen. „Kannten Sie die Verstorbene näher?“, fragte er betont beiläufig. Doch Mälzer konterte mit einer Gegenfrage: „Ich will jetzt keineswegs eine druckreife Stellungnahme und Ihrem Pressesprecher vorgreifen, sondern nur ihre ganz persönliche Meinung: Warum könnte jemand der Dame nach dem Leben getrachtet haben, was meinen Sie?“ „Clevere Idee Herr Mälzer, aber nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass auch ich ein Profi bin und reich an Erfahrung – von mir werden Sie nichts erfahren!“ Das freundschaftliche Gespräch mit verbindender „Friedenspfeife“ und auf Augenhöhe war damit bereits beendet. Enderle ging zurück an seine Arbeit, und Mälzer konnte damit auch ganz gut leben, schließlich hatte  er ja keinen zahlenden Auftraggeber mehr. Wozu also sollte er sich zu eigenen Recherchen hinreißen lassen?

Als der Hauptkommissar zurückkam an den möglichen Tatort, – ein gewaltsamer Tod war ja noch gar nicht sicher – wies ihn der SpuSi-Leiter auf Schleifspuren am Boden des Kleiderschrankes hin. Ein Fotograf war auch vor Ort und hielt sämtliche Details akribisch in Bildern fest, so auch diese dünnen Kratzer im Holz. Doch so richtig spannend wurde es erst jetzt: Am Nackenkissen hatte ein Mitarbeiter mittels starker Lampe und einer Lupe Spuren von Make Up entdeckt – also von einem geschminkten Gesicht und nicht vom Hinterkopf. Das deutete darauf hin, dass dieses Kissen vermutlich dem Opfer ins Gesicht gedrückt worden war, und zwar zu Lebzeiten, als die Frau noch Kohlendioxid in das Stoffgewebe ausatmete, was man im Labor ebenfalls würde nachweisen können. Daraus müsste man zwingend auf Tod durch Fremdeinwirkung schließen, also Mord.

Am Vormittag darauf betrat KHK Enderle die moderne Apotheke in Krötenbrunn und fragte nach dem Besitzer, den er in einer wichtigen Angelegenheit dringend sprechen müsse. Samuel Holzer wirkte gefasst, eine Bekannte hatte am Abend angerufen und schluchzend berichtet, was seiner Mutter widerfahren war. Beim anschließenden Gespräch mit dem Apotheker in einem hinteren Raum fragte Enderle unter anderem auch nach dem Mädchennamen und dem Geburtsort der Ehefrau sowie nach einem zu erwartenden Testament. Dabei gab Samuel Holzer lediglich die Immobilie in der Kreisstadt an und das Reitpferd, das seit Jahren nicht mehr als solches Verwendung fand. Außerdem natürlich auch die hiesige Apotheke, in der sie jetzt saßen und die ebenfalls im alleinigen Besitz der Mutter war. An den Schmuck seiner Mutter dachte Samuel gar nicht mehr in dieser Situation, was Ivonka sehr beruhigt registrierte, die ganz zufällig hinzugekommen war, um stolz das heutige Mittagsmenü zu verkünden.

 

Schon am Tag darauf gab es interessante Neuigkeiten im Kommissariat. Ivonka Holzer geborene Strojanek hatte in ihrer Heimatstadt auf der kroatischen Halbinsel Split schon einmal in Unter­suchungs­haft gesessen: Von einem kurzen Törn mit der Segeljacht eines begüterten Touristen war sie alleine zurückgekehrt in den Hafen. Er habe wohl beim Schwimmen eine Herzattacke erlitten und sei ertrunken, sie habe den über­gewichti­gen Mann einfach nicht retten können, obwohl sie es versucht hätte. Die Suche war schließlich abgebrochen und die Akte geschlossen worden. Obwohl bekannt gewesen war, dass Ivonka von ihrem Gönner mit Schmuck und auch Bargeld förmlich überhäuft worden war, hatte man der attrak­tiven Gespielin nichts nachweisen können damals. Es war zwar gemunkelt worden in den Kneipen am Hafen, aber schon bald hatte man nicht mehr darüber gespro­chen. Vor allem nicht angesichts ihres neuen Verehrers, eines deutschen Touristen aus Kröten­brunn irgendwo Nähe Bodensee, mit dem man Ivonka immer häufiger gesehen hatte in der beliebten Urlaubsregion um Porec.

Sieh an, sieh an, dachte Hauptkommissar Enderle so für sich, der „Lockruf des Goldes“, ein 1910 erschienenes literari­sches Werk von Jack London fiel ihm dabei ein, und er musste leicht schmunzeln. Es kam aber noch besser: „Gold und Silber lieb‘ ich sehr“, einen uralten Gassenhauer begann der sonst eher stille Haupt­kommissar ungewohnt fröhlich zu summen, sodass sämtliche Kollegen sich verwundert nach ihm umdrehten und ihren Ohren nicht trauten. „Der Alte summt – sollen wir einen Arzt rufen…?“ Aber nein, die gute Laune gründete auf einer Vorstellung in des Kriminalisten reicher Phanta­sie: Wie nämlich eine schlanke, gebräunte Badenixe sich abmühte, weit draußen in der türkisblauen Adria ein fettes, reiches und vor Sonnenöl glänzendes Walross über die Bordwand seiner Segeljacht zu wuchten, das darauf glucksend in den Wogen verschwand und die Schöne mit seiner ganzen Habe nebst reich gedeckten Kreditkarten zurückließ, deren PIN-Nummern sie natürlich alle im Gedächtnis hatte.

Doch angeregt durch diese Phantasien zuckte Enderle plötzlich eine ganz neue Frage durch den Kopf: Hatte denn diese wohlhabende und bis ins Alter auf ihr Äußeres bedachte Apothekerwitwe über­haupt keinen Schmuck in ihrer Wohnung? Dringende Frage an die KTU: „Wurde denn in der Wohnung in Krötenbrunn gar kein Schmuck gefunden?“ „Nein, kein Schmuck, nirgends!“ Das weckte schlagartig und mit Nachdruck den Argwohn des „Terriers“. Mit gefurchter Stirn ging er jetzt zunächst einmal hinunter in den Innenhof, eine Filterlose rauchen. Dort traf er ein paar Kollegen, dieselben wie jeden Tag. „Hatte schon mal jemand von euch eine ermordete reiche Witwe ohne Schmuck…?“ „Das gibt es genau so wenig wie hellblaue Elefanten, was soll die dämliche Frage?“ „Na ja, ich habe gerade so eine“, gab er zurück und grinste vielsagend. Er rief den Sohn der Verstorbenen in der Apotheke an. „Ach herrje, stimmt, daran habe ich ja gar nicht gedacht. Natürlich hatte meine Mutter Schmuck, ziemlich viele wertvolle Stücke sogar! Der muss in ihrer Wohnung sein!“ Den steuer­lich nicht ganz sauberen Deal Miete gegen Schmuck konnte er sich gerade noch verkneifen, um nicht auch noch schlafende Hunde bzw. Steuerfahnder zu wecken.

 

An Enderles fernem Horizont dämmer­te ein übler Verdacht empor, während sich in seinem Kopf immer mehr Puzzleteile zu einem Gesamt­bild zusammenfügten. Dieses geheimnisvolle Bauchgefühl, das sich so oft bei ihm ausbreite­te, war es wohl, was ihn zum Leiter der Mordkommission gemacht hatte. Irgendwie schien ihm die Schwieger­tochter suspekt, er konnte es aber nicht konkret an etwas festmachen. Das könnte sich womöglich ändern, wenn er Sohn und Schwiegertochter noch einmal zusammen befragen würde. Dazu würde er dann aber beide nicht etwa vorladen, sondern nur um ein harmloses Informations-Gespräch im Kommissariat bitten.

Pünktlich um 10 Uhr erschienen die beiden im Büro des Hauptkommissars und gestatteten ohne Widerspruch die Aufzeichnung der folgenden Unterhaltung. Kaffee wurde gebracht, die Atmosphäre war völlig ent­spannt. Wann und wo sie sich kennengelernt hätten, wollte Enderle wissen, wo sie am liebsten Urlaub machten, welches Auto sie fuhren oder ob sie zwei KFZ besäßen. Mit den Antworten konnte sich der erfahrene Kriminalist ein Gesamtbild zusammenreimen, auch und vor allem über die fami­li­ären Verhältnisse zu Lebzeiten der Verblichenen. Auf die lächelnd vorgetragene Frage nach persön­lichen Träumen und Lebenszielen traf er ins Schwarze. „Ein schmuckes Ferienhäuschen in ihrer Heimat an der Adria“, brach es aus Ivonka Holzer förmlich heraus. Ganz spontan und daher völlig arglos und unüberlegt. Oha, dachte der Terrier, und als Ivonka noch einen Jugendfreund erwähnte, der an dieser traumhaften Küste ihrer kroatischen Heimat mit Immobilien handelte und u.a. auch noch mit typischen Ferienhäusern, da war der Kommissar der Lösung dieses Falles einen großen Schritt näher gekommen. Sollte Ivonka Holzer den Schmuck der alten Dame tatsächlich an sich gebracht haben, um sich damit einen Lebenstraum zu erfüllen, so musste man ihr das jetzt baldmöglichst nachweisen, also die Beute auffinden. Den eigentlichen Tathergang zu rekonstruieren war dann Routinearbeit. Früher oder später würde sie den Schmuck ja zu Geld machen wollen. Zwar gab es keine Fotos davon, doch der erfahrene Kriminalist Enderle machte sich nicht nur eifrig Notizen, sondern auch laienhafte Skizzen zu den Schilderungen von Samuel Holzer, der den Schmuck seiner Mutter oft genug gesehen und bewundert hatte. Und es war bekannt, dass der Mieter der Immobilie in der Stadt Gold­schmie­de­meister war und ein angesehenes Schmuckgeschäft in der Kreisstadt in eben diesem Haus der Apothekerwitwe betrieb. Es wäre also doch durchaus vorstellbar, dass es hier zu einver­nehm­lichen Gegen­geschäften gekommen war – Schmuck gegen Miete. Mit dem Erlös aus diesem Goldschatz konnte man eine Ferien-Immobilie in Kroatien durchaus finanzieren oder zumindest in bar anzahlen, zumal bei einem eng befreundeten Makler vor Ort. Für Enderle bestand nach diesem Gespräch so gut wie kein Zweifel mehr. Das Motiv war klar, Gelegenheit hatte sie auch, jetzt hieß es abwarten und versuchen, Schmuck­fotos von dem Goldschmied in der Stadt zu beschaffen. Damit mussten dann Schmuck­händler und auch Pfandleihen im Umkreis von mindestens 100 Kilometern angeschrieben werden, und zwar umgehend. Enderle wusste, er würde den Sack schon bald zumachen können, und nahm zur Feier des Tages eine halbe Tasse Kaffee mit hinunter in den gepflasterten Hof, um sich eine besonders gemütliche Zigarette zu gönnen.

 

Aufgrund von ersten Verdachtsmomenten wurde von der Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Obduktion, eine Autopsie der Leiche angeordnet. Zuvor hatte man außer den Make-up-Spuren am Kopfkissen auch nachweisen können, dass sich das Kopfkissen zu Lebzeiten auf Mund und Nase der getöteten Person befunden haben musste. Da Ivonka Holzer mutmaßlich die letzte Person gewesen war, die die Tote lebend gesehen hatte, zog der zuständige Staatsanwalt die Anordnung von Unter­suchungshaft in Erwägung. Dies auch mit der Begründung, dass die mutmaßliche Mörderin Kontakte in ihr Herkunftsland Kroatien unterhielt und zudem die finanziellen Möglichkeiten hatte, sich dorthin abzusetzen, um sich den deutschen Strafverfolgungsbehörden zu entziehen. Allerdings wäre für die Beweisführung und den Nachweis des Mordes entscheidend, dass als wichtiges Indiz die Beute bei ihr gefunden wurde.

Der „Terrier“ genannte Kripo-Ermittler Herbert Enderle hatte sich „festgebissen“, nun tauchte er überraschend mit einem amtlichen Durchsuchungsbeschluss und drei Beamten der Spurensicherung an der Rückseite der Krötenbrunner Apotheke auf und klingelte bei „Holzer“. Die Dame des Hauses öffnete arglos durch Betätigen des Knopfes der Schließanlage, Sekunden später stand das Ermittler-Team in der Wohnung, vorneweg KHK Enderle mit dem behördlichen Formular, das einen großen runden Stempel trug. „Staatsanwaltschaft“ konnte Ivonka Holzer trotz ihres ersten Schocks deutlich lesen, und während sie noch nach Atem rang, waren die Männer bereits in ihrem Schlafzimmer auf der Suche. Ivonka stand derweil völlig sprach- und natürlich auch hilflos an der Garderobe. Dennoch  hatte sie sich überraschend schnell wieder gefasst. Als aber der Hauptkommissar mit seiner markigen Charles-Bronson-Stimme fragte: „Frau Holzer, wo steht ihr Auto?“ und den Schlüssel verlang­te, verlor sie nicht nur die Nerven, sondern auch die Sinne. Denn die Schatulle befand sich immer noch im Kofferraum ihres Autos vor der Tür. Sie wurde ohnmächtig und fiel dem Ermittler gerade­wegs in die Arme. Der stämmige KHK Enderle, der Terrier, der Bulle vom Dorf, konnte die zierliche Person problemlos auffangen und wusste in selben Moment, dass der Fall so gut wie abgeschlossen war. Es dauerte nur Minuten, bis die beiden Beamten vom Parkplatz zurückkamen in die Wohnung, und zwar mit einem aus edlem Holz gefertigten Kästchen mit Einlegearbeiten…!